Ein Abschied.
Oskars Räder rollen für den Sieg. Den Sieg über Distanzen, die wir sonst mit unserer schicken fest installierten Wohn-Klo-Kochgelegenheit nicht einfach so, quasi per dösigem Wimpernschlag, überbrücken könnten. Mit Oskar geht so etwas und deshalb war ich seit einer Stunde in trostloser Fahrt Richtung Odenwald unterwegs, um dort den kleinen aber an der Mümling gelegene Stellplatz, unser altes Heim, sozusagen zu erfahren.
Auffällig bei dieser Anfahrt war mir wieder, dass ich ziemliche Probleme habe, mich bei monotonem Dahinrollen lange auf die Fahrerei zu konzentrieren. Solange da nichts in den Weg huscht, also keine vermeintliche Gefahr meinen Weg zu kreuzen versucht, so lange praktiziere ich, ich will's mal zeitaktuell formulieren, tempomatisiert autonomes Fahren. Na jedenfalls verfiel ich recht schnell in Träumereien und in Erinnerungen, die von ganz weit hinten, bis vor kurzem reichten. Die Raststättenbetreibergesellschaften liefern halt leider nur jede Menge Futter für Magen und Darm aber leider nichts für die brach liegenden Gehirnzellen.
Schloss Holte Stukenbrock war noch lange nicht in Sicht, da waren meine Gedanken schon ganz woanders:
Ein VW Käfer fährt an Walter und mir vorüber und Walter freut sich. Hat er doch das Fabrikat am Klang des Motors vorhergesagt. Auch einen Opel und zwei weitere Fahrzeuge davor hatte er schon richtig angekündigt. Walter war schon ein Ass, wenn es um Autos am Motorgeräusch erkennen ging. Ich selbst war da nicht so beschlagen. Meine Träume drehten sich eher um den Mann in den Bergen, um den einsamen Cowboy, der übers Land reitet, halt den kleinen Abenteurer.
Es war die Zeit der kleinen, schmalen schwarz-weiß-Comic-Heftchen mit ihren immerwährend siegreichen Helden. Eine Welt weit weg und unerreichbar für einen kleinen Jungen. Doch für zehn, allenfalls zwanzig Pfennig das Stück am Kiosk zu haben. Es war die Zeit, in der ich so sieben oder acht Jahre alt war. Als noch nicht mehr als 10 Autos die Stunde vor uns vorbeifuhren, wenn wir so auf unserer Bank am Waldrand neben der B3 saßen. Es war auch die Geburtsstunde meines ersten Lebenszieles: Amerika!
Dieses Amerika blieb viele Jahre mein Ort der Verheißung. Mystisch, geheimnisvoll und voller Verbrecher und Helden, welche die bösen Schurken immer besiegen. Dass es dieses Amerika wirklich geben musste, das war offensichtlich, denn zwar ganz selten nur, aber dennoch, fuhren echte Amerikaner in Jeeps und manchmal auch in Panzern, genauso wie die VWs, Opels oder Mercedese
, vor uns auf der gleichen Straße vorbei und dann warfen uns manchmal die Soldaten sogar Bonbons, Kaugummis oder Schokolade zu. (Wobei ich nur die Kaugummis wollte, denn meine Mutter hatte mir verboten von Fremden Sachen zu nehmen und zu essen. Wer weiß was da drin ist, meinte sie. Kaugummis aber aß man ja nicht, man kaute sie nur. Von daher...). Außerdem erzählte mein Opa öfter davon, dass er und Oma sehr froh gewesen waren, als die Amerikaner endlich gekommen waren und die Nazis vertrieben hatten, denn die hatten seinen Sohn nach Russland an die Front geschickt, wo er totgeschossen worden war und dann weinte mein Opa immer. Was mir immer sehr leid tat.
Es dauerte viele Jahre, bis dieses Amerika Form und Farbe anzunehmen begann, sich meine Sehnsüchte verfeinerten und sich aus dem Wunsch ein Held in Amerika zu werden, der Gedanke formte, als Cowboy quer durch Amerika zu reiten und irgendwo in den Weiten der Blauen Berge
, als einsamer Mann heldenhaft zu leben. Es war halt mein Kindertraum, so wie es viele gibt.
Viele Hefte, Zeitschriften, Bücher, Erzählungen, Filme, Jahre und Länder später, wurde aus Amerika Alaska und aus Heldentum der Traum einer Existenz in weitem Land. Urtümlich und kernig, zufrieden in Frieden und Glückseligkeit, wollte ich dort eine kleine Familie haben. Eine Familie die weitestgehend autonom und autark in einer Friede-, Freude-, Eierkuchenwelt lebt.
Die Musik des Lebens spielte aber andere Töne. Neue Ziele und viele Gründe etwas zu tun oder eben nicht, ließen die Jahrzehnte verstreichen. Vieles ehemals Gutes wurde zu Schlechtem und vis versa. Wie bei allen anderen Menschen ebenfalls, berühren sich auch in meiner großen und kleinen Welt Glück, Gelingen und Scheitern unmittelbar. Ich verlor immer mehr meiner großen Lebensziele und damit Gründe zu leben. Denn zu was sonst lebt man noch, wenn man keine Ziele mehr hat.
Zu guter Letzt blieb mir in einer Zeit großer seelischer Not nur noch ein großes Ziel aus fernen Tagen: Alaska. Und wie neugierig war ich darauf es zu erleben. Und wie groß war meine Angst, dass alles ganz anders sein würde. Genau wie mein ganzes Leben immer anders war als erträumt. Sollte ich wirklich riskieren, diesen uralten Traum zu zerstören und mein letztes großes Ziel riskieren? Sollte ich wagen, der Wahrheit ins Auge zu blicken und dabei womöglich erkennen, dass auch mein letzter Traum sich in Luft auflöst, nichts mit der Realität gemein hat?
Einundfünfzig Jahre gereift, meine zweite Liebe im Arm. Die, welche als Erste der Meinung war, ich sollte doch nun endlich einmal mein Alaska besuchen. Die, die meinte, ich bräuchte doch keine Befürchtungen haben, meines letzten Zieles beraubt zu werden, denn sie wäre ja dabei und in der Tat, sie war und ist, inzwischen gemeinsam mit unserem Enkel, ein wirklich lohnender Grund weiterzuleben, um zu versuchen, dieses Leben in vollen Zügen so lange als möglich zu genießen.
Ein Kreuzfahrtschiff brachte uns das erste Mal von Vancouver nach Alaska. Unser erster Hafen war das Städtchen Ketchikan. Gefolgt von Juneau, der Hauptstadt Alaskas, und Skagway einem alten Goldrusch-Städtchen und dann Wrangel, einem Ort im Nirgendwo, und kaum der Rede wert.
Dieser erste Besuch war Alles in Allem geprägt von Empfindungen wie einzigartig, gigantisch, großartig und atemberaubend. Es war nicht so sehr das Entdecken unbekannten Landes, viel mehr ein Eintauchen in vorerfühlte Sphären, die sich bei Reisen zu anderen Zielen so nicht einstellen. Dieses Land, das ich aus meiner jugendlichen Erfahrungswelt heraus begehrte, ja liebte, doch ohne bis dato dort gewesen zu sein, bewirkt in mir eine unbeschreibliche, ja unfassbare Faszination.
Dennoch, der Begriff „Faszination“, beschreibt nicht in vollem Umfang das, was mein Inneres bewegt, wenn ich mich in diesem Alaska aufhalte. Den fehlenden Teil zu benennen, der das gesamte angekommen-zu-sein-Empfinden ausmacht und das mich dort immer überkommt, ist mir einfach nicht mit einem einzigen Schlagwort möglich. Es ist das Große und Ganze und die sich daraus ergebende Mischung von Traum und erfahrener Wirklichkeit.
Erst seit kurzem ist mir bewusst, dass sich dieses, sich zu diesem großartigen Land hingezogen fühlen, diese Begeisterung dafür, sich immer dann am intensivsten einstellt, wenn ich mich dort unter Umständen befinde, in denen normalerweise Todesangst das vorherrschende Gefühl wäre, diese aber wegen der real, komfortablen Lage, in der ich mich befinde, abwesend ist. Und übrigens eine Empfindung zu sein scheint, die sich nicht auf Alaska beschränkt, mir aber nur hier so deutlich vor Augen tritt. (Die Faszination des Lebensfeindlichen scheint wohl universell zu sein.)
Schon seit längerem weiß ich, dass es in Alaska Orte gibt, an denen mich ein besonders intensives Gefühl von Hingabe, ja Befreiung überkommt. Mir ist dort, als würde mir meine Vergangenheit abhandenkommen. Wobei dies nur die sich aus dieser Vergangenheit ergebenden, unangenehmen Erinnerungen, Zwänge und Ängste betrifft. Der romantische und angenehme Teil meiner Erlebniswelt hingegen verlässt mich nie und nirgendwo, auch dort nicht.
Es sind bestimmt nicht nur die großen räumlichen Distanzen, ebenso wenig die Weite und Menschenleere, sondern es ist unter anderem diese zum kanadisch-alaskanischen Kulturkreis gehörende gegenseitige Achtsamkeit der Menschen dort, die dieses wohltuende da-gehöre-ich-hin-Gefühl grundsätzlich befeuern.
Während der letzten Reise überrannte mich auf einer langen einsamen Straße sogar die Vorstellung, meinem Sehnsuchtsort noch näher kommen zu können, würde sich mein Körper jetzt auf dieser leicht geschwungenen, hügeligen Geraden gen Norden einfach immer weiter geradeaus bewegen. Dabei gab es um uns herum nur einen von schlanken Black Spruce Trees durchsetzten, endlosen Teppich von Pionierbirken.
Mein Ich könnte sich einfach losgelöst von dieser Straße hineinbewegen ins grenzenlose Land, weg von allen Verpflichtungen, Sorgen, Nöten und Zukunftsängsten. Einem Rechen gleich könnten die Bäume die Verzweiflung über das Kommende, das Unabwendbare abstreifen und zurückhalten und ich könnte derart eins werden mit dem hier und jetzt, in ewiger, grenzenloser Freiheit mit diesem, meinem Sehnsuchtsort.
Nicht mehr weiter müssen, angekommen zu sein, hier hinzugehören, dieses Empfinden habe ich in dieser Intensität nur in Alaska. Mag es anderswo genauso aussehen, mag ich mich an anderen Stellen auf der Welt genauso wohl und heimelig fühlen, es ist dennoch nicht das Gleiche.
Auf der letzten Reise wurde mir aber auch klar, dass mein ehemals kindlicher Traum und meine gegenwärtige Beziehung zu diesem Land, von der Abwesenheit jeglicher imaginärer und realer Notstände geprägt ist. Denn all die positiven, mitreißenden und Fantasie bestätigenden Erlebnisse, geschahen, wie schon gesagt, immer nur unter den best machbaren Umständen. Wie ein Vogel kreiste ich immer über all den Widrigkeiten des dortigen Lebens, ohne von derlei je wirklich betroffen zu sein.
Ach nein, ein einziges Mal betraf, ja berührte es mich/uns doch sehr direkt und in aller Schärfe. Es war am vorletzten Tag, bei Tempo 90, auf der Küstenstraße des Turnagain Arms, nicht weit vor Anchorage. Ein kaum realisierbarer Schatten vorne rechts. Ein dumpfer Schlag und ein etwa faustgroßer Stein durchschlug unseren Kühlergrill und ein weiterer kopfgroßer Stein hinterließ eine große Delle im Kotflügel. Steinschlag!
Eine tausendstel Sekunde schneller, einen halben Meter weiter rechts, nicht auszumalen, wenn es einen von uns direkt getroffen hätte. Die Windschutzscheibe jedenfalls hätte keinen dieser Steine aufgehalten.
Der folgende Abend, der so gleichermaßen zu einer Abschieds- und Geburtstagsfeier wurde, der alle Erlebnisse und Gedanken dazu sammelte. Der, der der Fantasie und dem Gefühl, Raum und Zeit gab, verhalf am Ende der Vernunft zum Sieg.
So kam mir in letzter Konsequenz mein Traum als solcher zwar nicht abhanden, doch die Vernunft ließ mich das Lebensziel Alaska letztlich doch verlieren, denn die Attribute des Alters gestatten einfach keine großen Experimente mehr. Sie fordern Sicherheit in Form eines Arztes um die Ecke, also einer Notwendigkeit, von der die allermeisten Orte Alaskas meilenweit entfernt sind.
Nun denn: „Es war einmal.“ Beginnen nicht alle Märchen so? Und enden nicht alle auch immer vor der letzten Seite, noch bevor der Deckel zugeschlagen wird? Doch nicht nur deshalb endet hier auch meines. Gibt es doch keine vorstellbaren Gründe mehr, in mein traumhaftes Alaska noch einmal leibhaftig zurückzukehren. Zehn Stunden Rückflug in gefalteter Haltung machen diesen meinen letzten Abschied, dann auch wirklich zum allerletzten.
* * *
Große Kanada-Alaska-Reise vom 13.5.18 bis 17.6.18
Herford-Frankfurt Zug
Frankfurt-Toronto Flug
Toronto-Vancouver Eisenbahn
Vancouver-Whitier/Alaska Schiff
Whitier/Anchorage-Fairbanks-Anchorage Auto
Ancorage-Frankfurt Flug
Frankfurt-Herford Zug.
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Euch allen besinnliche Festtage und einen guten Rutsch ins Neue Jahr.
Hartmut und Conni